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Reisefotografie: New York City 35/50

»When I’m in New York, I just want to walk down the street and feel this thing, like I’m in a movie.«
– Ryan Adams

Es ist 2019 und ich blicke auf 10 Jahre Berufserfahrung als Seminarleiter der Foto Erhardt Akademie zurück. Ich bilde mir nicht zuletzt deshalb ein, die meisten Kameras ganz gut zu kennen und gehe auch mit Situationen gelassen routiniert um, die mir 2009 locker den Schweiß auf die Stirn getrieben und meinen Blutdruck merklich erhöht hätten. Aber auch nach all den Jahren werden mir manchmal Fragen gestellt, die ich trotz oder gerade wegen meiner Zeit als Fototrainer nicht mal eben so beantworten kann. Einer dieser Fragen widme ich diesen Blogbeitrag. Zumindest zum Teil. Ihr werdet sehen.

WELCHES OBJEKTIV SOLL ICH FÜR DEN URLAUB KAUFEN?

Mal ganz unabhängig davon, dass ich diesen Job mache, weil ich während meiner Zeit im Laden sehr ausführliche und unproduktiv zeitintensive Beratungsgespräche führte und nicht zu schnellen und eindeutigen Antworten neige, hat sich meine Ansicht zum Thema Objektivempfehlungen mit zunehmender Fotografie-Erfahrung immer wieder geändert. Interessanterweise wird diese Frage aber auch ausschließlich von Einsteigern gestellt. Hat man erstmal eigene Erfahrungen gesammelt und einen Anspruch jenseits des dokumentarischen Schnappschusses an die eigenen Fotos entwickelt, kann man sich diese Frage manchmal nur schwer selbst beantworten.

Vorweg hat man nämlich ein paar Punkte zu klären.

Mache ich Urlaub, um zu fotografieren, oder möchte ich ein paar schöne Fotos als Erinnerung an den Urlaub schießen? Haben Mitreisende generell Verständnis für fotografischen Aufwand? Werde ich für bewusstes Fotografieren Zeit finden? Bin ich bereit, Entspannung für bessere Ergebnisse zu opfern? Bin ich gut zu Fuß?

In meiner Ausbildung habe ich gelernt, dass der Urlaubsfotograf viel Zoom benötigt. Im Urlaub will man alles fotografieren. Im Urlaub will niemand Objektive wechseln. Im Urlaub will niemand schweres Equipment tragen. Entschuldigt, aber ich muss das jetzt fragen:

Echt?

Ich sehe das ganz anders. Hier meine Gedanken zum Thema.

Niemand will jemals wirklich alles fotografieren, diese Annahme ist – bitte entschuldigt meine Ausdrucksweise – völlig schwachsinnig. Wer meint, er müsse Makro, Porträt, Street, Architektur, Landschaft, Wetterphänomene und Sport in normalen Farbtönen, Pop Art, HDR, Vintage, Hochkontrast- und regulärem Schwarzweiß mit und ohne Rot-, Grün-, Gelb-, Orange- und Blaufilter und teilweise als Langzeitbelichtung mit ND- oder Grauverlaufsfilter vereinzelt sogar als Gigapixel-Panorama fotografieren, hat keinen Urlaub, sondern einen absurden Arbeitsauftrag angenommen.

Im Urlaub bereise ich Orte, an die ich nicht so bald wieder zurückkehren werde und möchte deshalb besonders hochwertige Fotografien anfertigen. Mein Zuhause kann ich schließlich immer wieder ablichten, wenn’s auf Anhieb nicht so gut geklappt hat.

Wenn ich während eines Urlaubs nicht die Zeit finde, Objektive zu wechseln: Wann denn sonst?

Niemand will jemals schweres Equipment tragen. Das hat mit dem Urlaub nichts zu tun.

Unter diesen Gesichtspunkten könnt Ihr Euch bereits denken, dass ich auf die Frage nach einem Urlaubsobjektiv keine klare Antwort liefern kann. Welches Objektiv für Euch in Frage kommt, hängt immer – auch abseits des Urlaubs – von Euren Bildideen ab. Ergo: Ich weiß es nicht. Außerdem werden manche von Euch schon festgestellt haben, dass die Objektivfrage nur eins von mehreren Problemchen der Urlaubsfotografie ist.

Mit 35 Millimetern bin ich sehr glücklich.

 

Was ich weiß: Ich habe bereits an anderer Stelle davon geschrieben, wie wichtig Routine im Umgang mit der eigenen Ausrüstung ist, um zufriedenstellende Ergebnisse zu erzielen. Eine reine Urlaubsoptik ist deshalb ohnehin eine ganz doll doofe Idee. Du solltest Dein Glas kennen.

Ich muss gestehen, dass ich diesen kompletten Gedankengang lediglich als Aufhänger für meinen nun folgenden Erfahrungsbericht nutze. Noch Vorweg: Das Fotobuch ist fertig und thront zu Hause im Regal. Der Weg dahin war lang und aufwendig. Wie dieser Text.

Let’s do this.

OKTOBER 2018

Die Vorbereitungen waren eigentlich soweit abgeschlossen. Anreise, Unterbringung, Reisepass, Visum, Auslandskrankenkasse, Bargeld, Route vom Flughafen zum Hotel, (vegane) Verpflegung vor Ort: Check. Nur eine Frage galt es noch zu klären: Welche Objektive nehme ich mit?

Da ich an der Quelle sitze, muss ich mich nicht zwingend auf meine eigene Ausrüstung beschränken. Will sagen: Ich hatte nahezu freie Auswahl. Eigentlich geil. Aber andererseits auch ein wenig überwältigend. Wie will man das entscheiden?

Das Reiseziel war eine der wohl am häufigsten fotografierten Städte der Welt, die nun auch ich zum ersten Mal in meinem Leben vor die Linse bekommen sollte: New York City. Ich wollte es in jedem Fall vermeiden, mir Fotos von anderen Fotografen vor der Reise anzuschauen, denn das hätte mich eventuell in kreativer Hinsicht eingeschränkt. Ich wollte New York in meinem Stil shooten und niemanden auch nur unterbewusst kopieren.

Klar war: Hohe Gebäude erfordern Weitwinkel. Für klassische Streetfotos nimmt man 35 Millimeter. Für hübsche Porträts mit ein wenig Tiefe reichen 50 Millimeter locker aus. Für Close-Ups und Details wären dann 75 und 90 Millimeter brauchbar. Und wenn man nicht so nah ans Motiv kommt, wäre ein Tele ja auch ganz gut. Das wären dann insgesamt fünf bis sechs Objektive. Oder eine andere Kamera mit Superzoom (sowas gibt es für mein System nicht).

Ich hielt beides für keine gute Idee.

KNOW YOUR LENSES

Für meine Leica M10 besitze ich mittlerweile zwei Objektive: Ein 35 mm Summicron 1:2 Asph. und ein 50 mm Summilux 1:1.4 Asph. (in schwarz verchromt… das Auge isst mit). Beide Linsen habe ich schon länger im Einsatz und weiß ziemlich genau, wann ich welchem Glas den Vorzug gebe. Ich kenne die Abbildungseigenschaften im Bezug auf Schärfe, Tiefenwirkung und Ausschnitt sehr gut und setze beide Brennweiten gleichermaßen gerne ein. Das Objektiv muss halt zur Bildidee passen.

Fotografiert mit 50 Millimetern bei Blende f/1.4 am Vollformat – ich mag’s.

 

Ich verzichtete somit auf die Möglichkeit, mir noch andere Linsen auszuleihen und setzte ausschließlich auf die mir vertrauten Gläser.

Meine Lebensgefährtin machte es sich nochmal deutlich einfacher: Ihre Leica Q lässt sie dank fest verbauter 28 Millimeter Brennweite gar nicht erst auf die Idee kommen, mit anderen Gläsern zu fotografieren. Und auf ihre Leica M konnte sie bequem verzichten – ich nahm ja meine mit.

Noch während des Fluges hatte ich Zweifel. Zwischen Tomatensaft und Starbucks Kaffee kamen immer wieder die gleichen Gedanken hoch. Würden mir die beiden Objektive ausreichen? Hätte ich nicht doch besser wenigstens noch ein Weitwinkel mitnehmen sollen?

Eine Fahrt mit der Long Island Rail Road von Jamaica zur Penn Station später machten wir die ersten Schritte in Manhattan – und alle Sorgen lösten sich in Luft auf. Die Eindrücke waren überwältigend. Es sah überall genau so aus, wie man es aus Film und Fernsehen kennt. Und wie sollte ich mit meiner Objektivwahl etwas falsch gemacht haben, wenn ich die Lieblingsbrennweiten weltberühmter Regisseure wie David Fincher (35 mm) und Alfred Hitchcock (50 mm) in der Tasche hatte?

Hitchcocks Lieblingsbrennweite trifft auf Motorrad.

 

WEHE, WENN SIE LOSGELASSEN

Gefühlt ist in New York City alles fotogen. Jede Kreuzung, jedes Schild, jeder Briefkasten, jedes Auto, jeder Bürgersteig, Gullideckel, Haustüren, Dächer, Passanten, Tiere, Fassaden, Fenster, Geschäfte… you get the gist.

Und wenn man für genügend Strom und Speicherplatz gesorgt hat, meint man auch, alles festhalten zu müssen. Ja, müssen. So schnell kommt man da schließlich nicht wieder hin. Das Ergebnis: Über dreieinhalb tausend Auslösungen innerhalb einer Woche von mehr als dreitausend verschiedenen Motiven. Au weia.

Ein typischer Fahrradkurier in NYC. Auch ohne Autofokus bei Offenblende f/1.4 und 50 mm Brennweite in der Bewegung scharf – Übung macht den Meister.

 

Wer jetzt reiner Datensammler ist (ich kenne solche Leute) ist natürlich hochzufrieden. Alles auf ’nen Server ballern, und gut. Für mich ist das Foto erst dann fertig, wenn ich es auf Papier in Händen halte – am liebsten in Form eines Buchs. Nun will ich aber kein Buch mit über dreitausend Fotos anlegen (da sind dann ja auch nicht nur fotografische Perlen dabei). Und hier beginnt die eigentliche Arbeit.

Ein Hoch auf moderne, leistungsfähige RAW-Entwickler. Natürlich kommt bei mir kein JPEG aus der Kamera in ein Fotobuch. Klingt elitär, ist für mich aber logisch. Ich gebe nicht viel Geld für eine Ausrüstung aus, nur um dann Abstriche beim Ergebnis hinnehmen zu müssen. Teure Kameras und JPEG passen für mich niemals zusammen. Also Lightroom starten, und auf Los geht’s los.

Man könnte in New York auch nur Fassaden shooten. Hier musste es mal Farbe sein.

 

WORKFLOWS

Ich wollte mich bei der Auswahl und Bearbeitung der Bilder auf gar keinen Fall an meinen iMac fesseln, sondern auch unterwegs – wann immer es Zeit und Motivation hergaben – etwas tun können. Solche Bildmengen verarbeitet man nicht an einem Nachmittag. Die Lösung: Rohmaterial und Lightroom Katalog schob ich auf eine externe SSD, Lightroom landete auf einem MacBook Pro.

In den nächsten Wochen… sorry, Monaten… wurden nach und nach aus über 3.500 Fotos knappe 500 Bilder, die es ins Fotobuch hätten schaffen können. Da ich aber meistens gerne Bilder groß auf einer Seite präsentiere und manchmal mit nur einem Bild gleich eine komplette Doppelseite fülle, waren das immer noch zu viele Fotos.

Der finale Schritt von 500 zu 200 Bildern tat dann weh, war aber letztlich unumgänglich. Und nichtmal davon haben es letztlich alle Fotos ins Buch geschafft. Aber ich greife vor, denn die nächste Herausforderung wartete schon auf mich: Der Look.

Bei der RAW-Entwicklung setzte ich nie auf sogenannte Presets. Jedes Bild ist anders, darum wird von mir jedes Foto einzeln entwickelt. Manchmal möchte ich eine dramatische Zeichnung am Himmel hervorheben, manchmal dürfen helle Bildbereiche überstrahlen. Manche Fotos brauchen harte Kontraste, andere wirken mit weniger Kontrast interessanter. Die meisten meiner Fotos mag ich am liebsten in Schwarzweiß, aber einige wenige entfalten ihre Wirkung erst in Farbe.

Somit hatte ich nun 200 völlig unterschiedlich entwickelte Fotos vor der Nase, die in dieser Fassung niemals zu einem homogen wirkenden Bildband zusammengefasst werden konnten. Ich musste die Bilder also noch angleichen.

Die Lösung: Die von mir bis dahin verschmähten Presets.

Auf meine RAWs angewendet waren Presets jedoch wenig sinnvoll, denn damit wären meine Entwicklungsvorgaben überschrieben worden. Ich exportierte deshalb alle Bilder als 16-bit TIFF, importierte diese TIFFs in einen neuen Lightroom-Katalog und liess diese Bilder mit (natürlich von mir angepassten) Presets erneut exportieren – dieses Mal als JPEG.

Und daraus gestaltete ich ein Buch.

Wallstreet. 50 Millimeter. Blende auf. Geht wohl.

 

UND DIE MORAL VON DER GESCHICHT’

Ich bin mit dem Ergebnis höchst zufrieden und schaue immer wieder sehr gerne mein Buch mit meinen Fotos aus New York an. Ich habe mit den Objektiven alles absolut richtig gemacht, denn 35 und 50 Millimeter sind so nah beieinander, dass sich die Bilder hinsichtlich der Bildtiefe und des Ausschnitts sehr ähneln. Kombiniert mit meiner Bearbeitung wirkt das Ergebnis von vorne bis hinten harmonisch und fast schon akribisch durchgeplant.

Und ich habe bei diesem Projekt viel gelernt.

Erstens: Weniger ist mehr. Bei meinem nächsten Besuch (oh ja, da muss ich nochmal hin) werde ich versuchen, mich beim Fotografieren zu zügeln und mich nicht nur durch Strom und Speicherplatz begrenzen zu lassen. Die mitgebrachte Flut an Bildern hat in der Verarbeitung wenig Spaß gemacht.

Zweitens: War ich vor meiner New York Reise reiner Photoshopper, habe ich Lightroom intensiver kennen und lieben gelernt. Die Arbeit mit Verlaufsfiltern und Korrekturpinseln ist genial, und blitzschnell sind Ausschnitte genommen und kleine Fehler korrigiert. Insgesamt überzeugt mich der Workflow bei großen Bildmengen sehr. Photoshop will das ja auch gar nicht können, die Stärken liegen da ganz woanders. Ich möchte beides nicht mehr missen.

Drittens: Ich kann Dir absolut nicht sagen, welches Objektiv Du für den Urlaub kaufen solltest. Vielleicht ein lichstarkes 35er, vielleicht ein 50er, vielleicht ein Suppenzoom, vielleicht gar keins? Das musst Du selbst herausfinden.

Das werde ich wieder live sehen. Garantiert.

 

Ich bin richtig glücklich, mich auf meine Brennweiten eingeschossen zu haben. Wie mit der Kamera bin ich in der Hinsicht komplett befriedigt, es sind keine Wünsche mehr offen.

Was jetzt noch fehlt: Neue Inspiration. Wer aus New York nach Osnabrück zurückkehrt, hat auch mehr als ein halbes Jahr später mit dem konservativen Idyll einer norddeutschen Kleinstadt ein kleines Kreativitätsproblem.

Moment, mal eben was schauen. Delta Airlines, Abflug Amsterdam Schiphol, Ankunft JFK um…